Meinung
1. November 2023
Gemeinsamer Offener Brief von Kairos Sdliches Afrika und Kairos Palästina an Kirchenleitungen und Christen in
den USA, Europa und der Ökumenischen Familie
"Rechtfertige mich in deiner Gerechtigkeit, Herr, mein Gott" (Ps. 35,24)
Schwestern und Brüder:
Wir sind Zeugen eines Völkermordes an den Palästinensern in Gaza, der sich vor unseren Augen abspielt und dem nicht
unähnlich ist, was vor weniger als 30 Jahren in Ruanda und vor 80 Jahren in Europa geschah. Viele im Westen waren an
diesen Völkermorden mitschuldig. Wir können und drfen nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt. Es muss gestoppt
werden.
Wenn Sie nicht handeln, um diesen Völkermord zu stoppen, der von vielen in Ihren Ländern untersttzt und durch
Waffenlieferungen an Israel gefördert wird, machen Sie sich mitschuldig an diesem Völkermord. Diejenigen, deren
Regierungen diesen Völkermord untersttzen, haben eine gröÿere Verantwortung, dafr zu sorgen, dass ihre Regierungen
diesen Völkermord stoppen.
Wir verurteilen zwar jegliche Gewalt gegen Zivilisten und Nicht-Zivilisten, aber dieser Krieg ist nicht aus einem Vakuum
heraus entstanden. Seine Entstehung lässt sich auf die illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete, die Ausweitung
der illegalen jdischen Siedlungen im besetzten Palästina, die Verletzung des Rechts palästinensischer Flchtlinge auf
Rckkehr in ihre Heimat und die Belagerung des Gazastreifens in den letzten 17 Jahren zurckfhren. Und in jngster Zeit der
Aufstieg der ultranationalen und ultrareligiösen faschistischen Gruppen an die Macht in Israel und die Weigerung der
derzeitigen rechtsnationalen und religiösen Koalition, das unveräuÿerliche Recht der Palästinenser auf Freiheit und
Selbstbestimmung anzuerkennen. Die ganze Welt wurde Zeuge der anhaltenden übergriffe und Angriffe auf muslimische
und christliche heilige Stätten und Gläubige in Jerusalem und an anderen Orten, die von jdischen Extremisten, Siedlern,
Knessetmitgliedern und Ministern verbt wurden und die religiösen Gefhle nicht nur der Palästinenser, sondern auch von
Millionen von Christen und Muslimen in der ganzen Welt missachteten, um nur einige der Grnde fr das Leiden der
Palästinenser unter dem israelischen Siedlerkolonialismus zu nennen.
Im Jahr 2022 haben die israelischen Besatzungstruppen 230 Palästinenser getötet; 171 im Westjordanland, 53 im
Gazastreifen, 6 in Israel und 44 davon sind Kindertote. Darber hinaus haben die israelischen Besatzungstruppen seit
Jahresbeginn und bis zum 7. Oktober 2023 insgesamt 243 Palästinenser getötet. Wir hoffen, Ihnen damit einen
makroskopischen überblick ber die Lage des palästinensischen Volkes zu geben. Damit wollen wir nur unterstreichen, dass
Schmerz, Trauer und Leid nicht erst am 7. Oktober 2023 beginnen.
Wir alle wissen, dass all diese Gräueltaten gegen alle Menschen gegen Gottes Absichten fr Gottes Welt verstoÿen. Sie
verstoÿen auch gegen das Völkerrecht und gegen die Genfer Konventionen. Diese Gesetze und Konventionen wurden
hauptsächlich von den westlichen Mächten nach dem Zweiten Weltkrieg eingefhrt, und kein Staat wurde davon
ausgeschlossen oder erhielt einen Sonderstatus.
Kombiniert man all das, was oben beschrieben wurde, mit der totalen Belagerung des Gazastreifens durch Israel und der
gefährlichen Blockade fast aller gewaltfreien Wege, dann wird jeder vernnftige Mensch verstehen, dass die Dinge
explodieren werden. Wenn Amerikaner oder Europäer in einer ähnlichen Situation wären wie die Menschen in Gaza, dann
fragen wir uns, wie sie reagiert hätten? Die Geschichte lehrt uns, dass sie nicht gewaltlos reagiert hätten, und deshalb
halten wir einige der Etiketten, die den Palästinensern (und frher den Sdafrikanern) verpasst wurden, fr äuÿerst
heuchlerisch.
Die Sdafrikaner wissen, was es bedeutet, als "Terrorist" oder "Kommunist" bezeichnet zu werden. Die Palästinenser wurden
von denjenigen, die sich des schlimmsten Antisemitismus schuldig gemacht haben, mit noch schlimmeren Etiketten
versehen, die sie dem palästinensischen Volk aufgebrdet haben. In der Praxis sehen wir, wie die Palästinenser täglich von
israelischen Siedlern, den Besatzungstruppen und anderen zionistischen Milizen terrorisiert werden. Deshalb weisen wir auf
die Heuchelei hin, die darin besteht, dass diese Bezeichnungen nur einer Gruppe von Menschen auferlegt werden.
Die meisten Kirchen in Europa und den USA scheinen ihre koloniale und rassistische Geschichte noch nicht aufgearbeitet
zu haben. Aus diesem Grund ist die Linse, durch die unser Leben betrachtet wird, immer noch von ihren Snden des
Kolonialismus und Rassismus gefärbt. Wir mssen Ihnen das jetzt noch einmal vor Augen fhren und Sie darauf aufmerksam
machen. Dies ist eine Projektion der schlimmsten Art und steht im Widerspruch zu dem Jesus, den wir aus der Heiligen
Schrift kennen. Wir rufen Sie deshalb zu tiefer Reue auf.
Der Jesus, den wir kennen und erlebt haben - und dessen Geburt in Bethlehem wir bald feiern werden - lässt sich am
besten mit den Worten der jungen sdafrikanischen christlichen Dichterin Thandi Gamedze zusammenfassen, wenn sie
schreibt:
"Wenn Jesus heute leben wrde...
Und ich meine wirklich den braunen Jesus
Derjenige, der im besetzten Palästina aufwuchs
Das römische Imperium eine ständige Bedrohung
Sein Militär ging mit Waffengewalt gegen jeden vor, der aus der Reihe tanzte
Der Jesus, dessen Aufnahme in die Welt von Gewalt berschattet war
Die Luft war erfllt von dem Befehl des römischen Verbndeten König Herodes
Fr den Völkermord an allen Jungen in Bethlehem
Wenn dieser Jesus heute leben wrde
Es ist klar, wo er sein wrde
Wahrscheinlich auf dem Weg nach Sden
Den Bomben und dem weiÿen Phosphorregen ausweichen
Um Familie und Freunde trauernd
deren Häuser in Schutt und Asche gelegt wurden
während sie drinnen schliefen
Die Heilungskräfte sind angesichts der vielen Opfer beeinträchtigt
Klage die einzige plausible Antwort auf die Verwstung
Dass Jesus kein Wasser haben wrde, das er in Wein verwandeln könnte
Weil das gegenwärtige Imperium Zement in die Versorgung gegossen hat
Und alle Zugangswege abgeschnitten hat
Seine bernatrlichen Fähigkeiten wrden getestet werden
In dieser humanitären Krise
Weil die fnftausend hungernden Menschen
sich auf zwei Millionen vervielfacht haben
Und selbst fnf Brote und zwei Fische sind schwer zu finden
Ich bin ziemlich sicher, dass er Angst haben wrde
Wie bei der Betrachtung seiner bevorstehenden Kreuzigung
Angesichts der Unmenschlichkeit des Imperiums wäre er aller Hoffnung beraubt
Er wrde sich wahrscheinlich dem Gebet zuwenden, wie er es am Tag vor seiner Ermordung tat
"Gott, wrdest du diesen Kelch des Leidens von uns nehmen und befreie Palästina"
Mit diesem Blick, der oben so schön und zuversichtlich formuliert wurde, wenden wir uns nun an Sie.
Zunächst sprechen wir unseren jdischen Schwestern und Brdern unsere Anerkennung aus, die begonnen haben, "nicht in
unserem Namen" zu sagen, und wir beten, dass ihre Zahl und ihre Proteste wachsen mögen. Die Menschen, die auf der
ganzen Welt auf die Straÿe gehen, sind nun in erster Linie diejenigen, die die gute Nachricht von Frieden, Gerechtigkeit und
Versöhnung berbringen. An sie werden wir uns wenden.
Es ist daher ein Armutszeugnis fr die Kirchen in den USA, in Europa und in der Ökumenischen Familie, dass sie dem Mord
an Palästinensern und den Racheakten an unseren palästinensischen Schwestern und Brdern seltsam gleichgltig
gegenberstehen und nur reagieren, wenn Israelis getötet werden. Sie sprechen ständig von "Frieden, Frieden, wo es keinen
Frieden gibt". Soweit wir sehen können, wurde jeder Anschein von Frieden schon vor langer Zeit aufgegeben, während Teile
des palästinensischen Landes gestohlen wurden. Die leeren Phrasen sind daher nicht nur ein Affront gegen uns, sondern
auch gegen den Gott der Gerechtigkeit, den Gott, der sich auf die Seite der Unterdrckten, der Unterdrckten und der
Ausgegrenzten stellt.
Wäre dies das Jahr 1943, dann wären die von den Europäern verfolgten Juden die Unterdrckten, Unterdrckten und
Ausgegrenzten gewesen, und wir hätten uns auf ihre Seite gestellt. Aber wir schreiben jetzt das Jahr 2023, und heute sind
die ehemals Unterdrckten zu ermächtigten Unterdrckern geworden, die dem gegenwärtig unterdrckten Volk, dem
palästinensischen Volk, das Genick brechen und sogar seine Existenz wegwnschen. Sie werden täglich mit Botschaften von
Siedlern bombardiert: "Zieht nach Jordanien!"
Wir haben Neuigkeiten fr sie und fr Sie: Die Palästinenser gehen nirgendwohin: Stattdessen werden sich die Palästinenser
von ihrer derzeitigen Kreuzigung erheben, und alle unterdrckten Menschen berall werden sich mit dem palästinensischen
Volk identifizieren, so wie sich die Menschen während der Apartheid mit den schwarzen Sdafrikanern identifizierten. Die
christliche Gemeinschaft in Palästina ist eine kleine und oft vergessene Minderheit, aber mit Bischof Tutu sagen wir: "Gott ist
kein Christ" und Gott kmmert sich nicht nur um diejenigen, die sich Christen nennen. Alle Menschen und alle, die den Willen
Gottes tun, werden von Gott gleichermaÿen geliebt und umsorgt. Die Menschenrechte kennen keine Grenzen von Religion,
Kultur, Klasse, Rasse oder Geschlecht. Palästinensische Christen stehen an der Seite aller Palästinenser und identifizieren
sich voll und ganz mit ihnen. Der Westen muss begreifen, dass Sie die Werte der Demokratie und der Menschenrechte
einem erheblichen Risiko aussetzen und sie de facto delegitimieren, wenn Sie Ihren derzeitigen Kurs fortsetzen.
Dieser offene Brief ist zwar an Sie gerichtet, doch unsere Hoffnung ruht auf Gott, der mit seinem Volk solidarisch ist. Gott
wird Sie fr Ihre Snden des Begehens und Unterlassens zur Rechenschaft ziehen.
Wir vertrauen auf den Jesus, der den Armen und Unterdrckten die Frohe Botschaft verkndet hat. Jesus erinnert uns alle
daran, dass Gott kein Stammesgott ist, sondern ein Gott, der sich um alle Völker kmmert. Dieser Jesus erfllt uns mit
Hoffnung und Freude, und wir beten inständig, dass auch Sie diesem Jesus begegnen und von ihm befreit werden.
Wenn Ihre Herzen durch das, was wir geschrieben haben, etwas bewegt werden, rufen wir zu tiefer und sofortiger Solidarität
mit dem gesamten palästinensischen Volk und insbesondere mit den Menschen in Gaza auf. Wir sind bereit, mit Ihnen ber
den Inhalt dieses offenen Briefes zu sprechen.
Möge Gott Sie segnen,
Pfarrer Frank Chikane
im Namen von Kairos Sdliches Afrika
+ Emeritierter Patriarch Michel Sabbah
im Namen von Kairos Palästina