Freunde von Sabeel Deutschland e.V.
Theologie
Palästinensische Befreiungstheologie (Naim Ateek: Recht nicht als Recht-Entwurf einer palästinensischen Theologie, 1989, Seiten 101-102, 104-118) Kontextualisierung Die Kirche ist dazu gerufen, ihren Glauben und ihre Theologie in der jeweiligen Zeit und in der jeweiligen Umgebung zu aktualisieren, zu kontextualisieren und sich den entscheidenden Herausforderungen zuzuwenden, denen sie gegenübersteht. Der Sinn dieser Kontextualisierung kommt sehr deutlich bei Shoki Coe zum Ausdruck: „Kontextualität heißt von daher… die kritische Abschätzung dessen, was den Kontext im Lichte der Missio Dei wirklich wichtig macht. Es ist eine missiologische Unterscheidung der Zeichen der Zeit, ein Sehen dessen, wo Gott am Werk ist und uns zur Teilnahme ruft. Auf diese Weise heißt Kontextualität mehr als nur eben das unterschiedslose Ernstnehmen aller Kontexte. Es bedeutet Bewusstwerdung der Kontexte im besonderen geschichtlichen Augenblick und die Einschätzung der Besonderheit des Kontextes im Lichte der Sendung der Kirche, die dazu berufen ist, an der Missio Dei zu partizipieren.“ Kontextualisierung ist also für das Leben der Kirche ein andauernder Prozess, in dem sie durch die rapiden Veränderungen der Zeit hindurchgeht. Sie beinhaltet ständige Dekontextualisierung und Rekontextualisierung, besonders in einer so unbeständigen und vom Krieg zerrissenen Situation wie im Nahen Osten . Christen glauben, dass die Inkarnation die göttliche Form der Kontextualisierung ist. Die Pflicht der Kirche in Israel und Palästina ist es heute, ihren eigenen konkreten und lokalen Kontext ernst zu nehmen. Wie Jesus erkannte, dass seine Aufgabe lautete, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden, den Blinden das Augenlicht, den Unterdrückten die Freiheit zu geben und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, so sollte das auch die Kirche tun. Sie hat sich in ihren Kontext zu inkarnieren, auf dass sie die Stimme der Unterdrückten und der Erniedrigten sein kann. Die Kirche in Israel und Palästina hat eine einzigartige Rolle zu spielen: den Sinn für Gerechtigkeit, wie er sowohl biblisch als auch theologisch zu verstehen ist, bis auf den Grund auszuloten. Nach Frieden in Gerechtigkeit zu streben, ist heute die höchste Berufung der Kirche in Israel und Palästina und zugleich deren größte Herausforderung Bibel und Befreiung: Eine palästinensische Perspektive „Jede Theologie der Befreiung muss notwendig die Frage der Gerechtigkeit behandeln. Sie ist für Palästinenser, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit, die Hauptfrage.“ „Für christliche Palästinenser gibt es eine zweite Hauptfrage, die von einer Theologie der Befreiung angesprochen werden muss: die Frage der Bibel“. „Befreiungstheologen sehen die Bibel als eine dynamische Quelle für ihr Verständnis von Befreiung. Aber wenn einige Teile daraus wortwörtlich auf unsere heutige Situation bezogen werden, dann scheint die Bibel den Palästinensern eher Sklaverei als Freiheit, Unrecht als Recht und den Tod ihres nationalen und politischen Lebens zu bieten“. „Viele gutgläubige Christen sind durch bestimmte biblische Worte und Bilder, die normalerweise im Gottesdienst verwendet werden, verwirrt und in die Irre geführt worden; diese Worte haben seit der Errichtung des Staates Israel eine neue Bedeutung erlangt. Wenn Christen zum Beispiel das Benedictus rezitieren, das so anfangt: « Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen» (Lk. 1,68) was bedeutet das heute für sie? An welches Israel denken sie? An welche Erlösung?“ „Die Errichtung des Staates Israel war eine seismische Erschütterung ungeheuren Ausmaßes, welche die Grundfesten christlicher Glaubensüberzeugungen ins Wanken gebracht hat. Seitdem kommt keine palästinensische christliche Theologie darum herum, die Frage nach der Bibel zu behandeln: Wie kann die Bibel, die offensichtlich zu einem Teil des arabisch-israelischen Konflikts geworden ist, zu einem Teil seiner Lösung werden? Wie kann die Bibel, die dazu benutzt worden ist, Fluch über die nationalen Bestrebungen eines ganzen Volkes zu bringen, wieder zum Segen für dasselbe Volk werden? Wie kann die Bibel, durch die viele zum Heil geführt worden sind, selbst gerettet und erlöst werden?“ „Die Errichtung des Staates Israel hat das Verständnis der Bibel, insbesondere der hebräischen Bibel oder des Alten Testaments auf Seiten der meisten palästinensischen Christen wie der Mehrzahl der arabischen Christen überhaupt negativ beeinflusst. Viele bisher verborgen gebliebene Probleme traten mit einem Mal hervor. Der Gott der Bibel, bis dahin der rettende und befreiende Gott, wird von den Palästinensern nunmehr als parteiisch und diskriminierend angesehen. Vor der Schaffung des Staates wurde das Alte Testament als wesentlicher Bestandteil der Heiligen Schrift betrachtet, weil es auf Jesus verweist und ihn bezeugt. Seit der Errichtung des Staates haben einige jüdische und christliche Interpreten das Alte Testament im großen und ganzen als einen zionistischen Text gelesen, was dazu geführt hat, dass es für palästinensische Christen beinahe abstoßend geworden ist.“ „Mit der Frage der hebräischen Schriften hängt diejenige nach unserem Gottesbegriff eng zusammen. In den christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens steht die Existenz Gottes nicht in Zweifel. Was ernsthaft in Frage gestellt wird, sind das Wesen und der Charakter Gottes-. Aber In welchem Verhältnis steht Gott zum neuen Staat Israel? Ergreift Gott nur Partei für die Juden? Ist er ein Gott der Gerechtigkeit und des Friedens?“ Der Kern dieser Fragen betrifft die Person Gottes selbst. Gottes Charakter steht zur Debatte. Gottes Integrität steht in Frage. „Die Theologie stellt die einzige Brücke zwischen der Bibel und den Leuten dar. Es muss eine biblisch solide Theologie sein, eine befreiende Theologie, eine Theologie, die kontextualisiert und interpretiert und dabei zugleich dem Herzen der biblischen Botschaft treu bleibt. Solange es keine solche Theologie gibt, werden die Menschen der Neigung nachgeben, die unerwünschten Teile der Bibel außer Acht zu lassen und zu vernachlässigen.“ „Für palästinensische Christen lautet die Kernfrage, die allen anderen vorausgeht, ob das, was sie in der Bibel lesen, Gottes Wort an sie ist und ob es das Wesen, den Willen und die Absichten Gottes im Blick auf sie widerspiegelt.“ „Der Kanon dieser Hermeneutik für palästinensische Christen ist kein Geringerer als Jesus Christus selbst. Denn in Christus, durch Christus und wegen Christus ist den Christen Einsicht in Gottes Wesen und Charakter offenbart worden.“ „Die Dinge werden klarer, wenn wir diese Hermeneutik auf bestimmte Bibeltexte anwenden. Es gibt gewisse Passagen des Alten Testaments, deren theologische Voraussetzungen und Behauptungen von den heutigen Christen nicht übernommen werden müssen, weil sie ein frühes Stadium des menschlichen Verständnisses der Offenbarung Gottes widerspiegeln, welches mit dem Verständnis Gottes, wie es sich in Jesus Christus offenbart hat, in Konflikt steht (z.B. Jos.6,2Kön.2,23f, 1. Sam.15,1-3).“ „Das Geschehen des biblischen Exodus aus Ägypten wird von vielen jüdischen religiösen Zionisten und christlichen Fundamentalisten im Lichte eines unkritisch primitiven Gottesbegriffs gelesen und in das 20. Jahrhundert übertragen. Das ist aus christlicher Sicht theologisch unannehmbar. Für die Juden, die gekommen sind, um den Staat Israel zu errichten, war die Reise nach Palästina ein Exodus aus den verschiedenen Ländern, in denen sie gelebt hatten und eine Rückkehr in das Gelobte Land. Offensichtlich haben sich für sie die Vorstellungen aus der fernen Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden“. „Anstelle der Kriege und des Blutvergießens im biblischen Bericht habe ich die Hoffnung, dass die Palästinenser zurückkehren, um am Land Israel-Palästina teilzuhaben. Dies ist die Art von Rückkehr, die der Gott will, den wir im Zuge der gesamten biblischen Offenbarung kennengelernt haben: ein Gott der Gerechtigkeit, des Erbarmens und des Friedens.“ “Gottes Land, eine biblische Sicht”